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EU-Parlament streitet über Bienen und Ackergifte

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In der Europäischen Union tobt eine heftige Auseinandersetzung um die Reduktion von chemisch-synthetischen Pestiziden – ein Plan der EU-Kommission. Die Anhörung der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) „Bienen und Bauern retten“ am 24. Januar 2023 im EU-Parlament kam daher zu einer wichtigen Zeit. Sie zeigt auch: Demokratie wirkt! Es macht einen Unterschied, ob die Bürger*innen ihre Stimmen zum Schutz der Umwelt und der Gesundheit erheben. Doch die Agrarindustrie wehrt sich heftig gegen die Pläne der EU.

Es war eine lebhafte Debatte im Europäischen Parlament: Am 24. Januar durfte die EBI „Bienen und Bauern retten!“ nach einem jahrelangen politischen Marathon ihre Forderungen vorstellen. Anschließend wurden diese von den EU-Abgeordneten kommentiert. Vier Stunden lang ging es vor dem Umweltausschuss (ENVI), dem Landwirtschaftsausschuss (AGRI) und dem Petitionsausschuss (PETI) darum, wie die europäische Gemeinschaft die Landwirtschaft zum Schutz von Bestäubern umgestalten und zugleich auch dem Höfesterben entgegenwirken kann.

Die Aurelia Stiftung hatte die EBI in einem breiten Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen Ende November 2019 gestartet. Die EBI ist schon allein deshalb ein Erfolg  für die direkte Demokratie, weil es erst die siebte offizielle Europäische Bürgerinitiative ist, welche die nötigen Stimmen von Bürger*innen zusammengebracht hat. Mehr als 1,1 Millionen Menschen hatten die EBI unterzeichnet. Das zeigt, wie wichtig die Themen Pestizide und gesunde Landwirtschaft den Menschen in der EU sind. Schon im Jahr 2017 hatte sich eine EBI mit Pestiziden befasst: Damals hatten über 1,3 Millionen Menschen ein Verbot des Totalherbizids Glyphosat und eine Reform des Zulassungsverfahrens für Pestizide sowie EU-weit verbindliche Reduktionsziele gefordert.

Diese beiden Europäischen Bürgerinitiativen haben die EU-Kommission nach eigenen Angaben dazu inspiriert, die erste europäische rechtlich bindende Pestizid-Reduktion um 50 Prozent bis zum Jahr 2030 vorzuschlagen. Es handelt sich dabei um die SUR-Verordnung (Englisch: „Sustainable Use Regulation“), gegen die sich die Agrarindustrie heftig wehrt.

Außerdem hat die EU-Kommission ein Gesetz zur Wiederherstellung der Natur (Englisch: „Nature restoration law“) vorgelegt. Doch die Vertreter und Vertreterinnen des EBI-Bündnisses warnten bei der Anhörung, dass konservative Kräfte und Sonderinteressen der Agrarindustrie beide Vorschläge der EU-Kommission jetzt ernsthaft bedrohen.

Die Zivilgesellschaft hat die besten Argumente

EBI-Mitorganisator Dr. Helmut Burtscher-Schaden von der Umweltorganisation GLOBAL 2000 warnte daher eindringlich: „Wenn wir die Welt, wie wir sie kennen, erhalten wollen, müssen wir die Art und Weise ändern, wie wir mit ihr umgehen.“ Es gebe keine Alternative zur Pestizidreduktion, um die Nahrungsmittelversorgung langfristig sicher zu machen. Er appellierte daher an die Abgeordneten: „Überprüfen Sie Ihre politischen Entscheidungen, hören Sie auf die Wissenschaft und nicht auf die Industrie.“

Chemisch-synthetische Pestizide werden in Europa seit mehr als 60 Jahren eingesetzt. Allerdings gibt es bislang keine systematischen Datenerhebungen über ihren Einsatz und die Rückstände in Ökosystemen und beim Menschen. Diese Lücke füllt nun das vom EU-Förderprogramm „Horizont 2020“ finanzierte Projekt SPRINT. Violette Geissen,  Professorin für Bodenrisiken an der Universität Wageningen, stellte im Namen der EBI erste Ergebnisse ihrer neuen Studie vor, einer ersten umfassenden Erhebung über die Pestizidbelastung vom Sommer 2021 an zehn Standorten in Europa. Demnach finden sich im Staub von Wohnhäusern europäischer Landwirt*innen 124 verschiedene Pestizide. Bei anderen sozialen Gruppen wurde ebenfalls ein regelrechter Pestizid-Cocktail gefunden, wenn auch in geringerer Konzentration. Jedoch wurden auch dort bis zu 85 verschiedene Pestizide im Hausstaub festgestellt.

„Pestizidrückstände sind im Ökosystem und beim Menschen allgegenwärtig und reichern sich in Innenräumen in hohem Maße im Staub an. Die meisten dieser Rückstände sind für Ökosysteme und Menschen gefährlich“, sagte Geissen. „Welches Risiko besteht wirklich für Ökosysteme und Menschen, wenn sie Gemischen mit einer hohen Anzahl gefährlicher Pestizidrückstände ausgesetzt sind? Wer hat die Antwort darauf?“, fragte die Professorin. „Niemand. Wir brauchen eine Gesetzgebung, die das Vorsorgeprinzip anwendet und die Verringerung des Risikos und des Einsatzes von Pestiziden regelt. Wir brauchen einen Übergang zu einer modernen Landwirtschaft 2030 auf Grundlage agrarökologischer Konzepte“, sagte sie.

Auch ihr Kollege Jeroen Candel, Professor für Lebensmittel- und Agrarpolitik an der Universität Wageningen, sprach bei der Anhörung. Er gab damit den mehr als 700 Wissenschaftler*innen aus allen europäischen Mitgliedsstaaten und wissenschaftlichen Disziplinen eine Stimme, die einen Aufruf an die EU-Kommission für eine ehrgeizige Verordnung zur nachhaltigen Nutzung von Pestiziden unterzeichnet hatten. Er betonte, dass kein einziger seriöser Wissenschaftler in Europa behaupten würde, dass die Pestizidverordnung ein Risiko für die europäische Lebensmittelsicherheit darstelle“. In der Wissenschaft gebe es einen „großen Konsens“, dass der rasche Verlust der biologischen Vielfalt und der Klimawandel die größten Bedrohungen für die Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit des Lebensmittelsystems seien. „Es liegt nun an Ihnen, Ihr politisches Geschick einzusetzen, um eine wirklich grüne Revolution des europäischen Lebensmittelsystems zu verwirklichen“, sagte Candel. Ein entscheidender erster Schritt sei die unverzügliche Umsetzung der Pestizidreduktionsziele der EU-Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ (Englisch: „Farm to Fork“) sowie der EU-Biodiversitätsstrategie.

Für das EBI-Bündnis sprach auch der französische Getreidebauer Jean-Bernard Lozier, der den Einsatz von Pestiziden auf seinem Hof um 80 Prozent reduziert hat. Das habe nicht zu nennenswerten Ertragseinbußen geführt, berichtete er. Zugleich habe er sogar seine Arbeitsbelastung reduzieren können. „Ich bin ein glücklicher Landwirt und die Rentabilität meines Betriebs ist mit der meiner Nachbarn vergleichbar“, sagte Lozier.

Madaleine Coste von der Organisation Slow Food prangerte an, dass Europaabgeordnete der Mitte-Rechts-Fraktion „falsche Geschichten“ verbreiten, wonach Nichtregierungsorganisationen Ängste um Ernährungssicherheit schürten. Es seien vielmehr „nicht nachhaltige Lebensmittelsysteme, die zu Ernährungsunsicherheit führen werden“, nicht aber die Pestizidreduktion.

Was halten die EU-Abgeordneten von den EBI-Forderungen?

Der Umweltausschuss des Parlaments (ENVI) sowie die Fraktionen der linken Mitte, der Linken und der Grünen unterstützten die EBI. Dagegen kam aus der rechten Mitte des Parlaments eine klare Distanzierung. So forderte der Abgeordnete Herbert Dorfmann (EVP) die Organisator*innen der EBI auf, „zu respektieren, dass wir unterschiedliche Standpunkte haben“.

Der sozialdemokratische Europaabgeordnete Tiemo Wölken wiederum verwahrte sich gegen die Äußerungen der EVP. Es sei „eindeutig nicht hilfreich“, wenn eine große politische Fraktion mit Scheinargumenten argumentiere, sagte er in Richtung der EVP. Er stellte sich klar hinter das Ziel der EU, den Einsatz von Pestiziden bis 2030 zu halbieren wie in der „Farm to Fork“-Strategie vorgesehen.

Die niederländische Europaabgeordnete der Linken, Anja Hazekamp, kritisierte die Lobby gegen die Pläne zur Reduzierung des Pestizideinsatzes als „bösartig“. Sie dankte dem EBI-Bündnis dafür, dass es so „politisch“ sei.

Der deutsche Grünen-Abgeordnete Martin Häusling appellierte, es sei ein dringender Wandel erforderlich, weil nicht nur die Bienen, sondern auch die landwirtschaftlichen Betriebe in alarmierendem Tempo verschwänden.

Was ist die Position der EU-Behörden?

Claire Bury, stellvertretende Generaldirektorin für Gesundheit (DG Sante), sagte, die EU-Exekutive habe „laut und deutlich“ gehört, dass „die Bürger gesunde Lebensmittel ohne Pestizide wollen“ und sprach sich für eine ehrgeizige Verringerung der Abhängigkeit von Pestiziden aus. Hierfür müsse der Zugang zu biologischen Alternativen für Pestizide vereinfacht und beschleunigt werden – nach ihrer Meinung auch mittels Neuer Gentechniken.

Laut der EU-Kommission bergen chemische Pestizide „große Risiken für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger, insbesondere für Personen, die diese Pestizide verwenden, aber auch für gefährdete Gruppen und Kinder“. In landwirtschaftlichen Gebieten trage der Einsatz einiger chemischer Pestizide zum Rückgang der Bestäuber bei. Schon jetzt habe die Hälfte der Landfläche, auf der von Bestäubern abhängige Nutzpflanzen angebaut werden, ein „Bestäubungsdefizit“. In Europa seien bereits zehn Prozent der Bienen- und Schmetterlingsarten vom Aussterben bedroht, ein Drittel von ihnen verzeichne einen Rückgang. Chemische Pestizide sollten nur als letztes Mittel eingesetzt werden.

Die EU hatte sich schon im Jahr 1993 verpflichtet, Pestizide zu reduzieren. Sie scheiterte jedoch weitgehend trotz Zielvorgaben und Gesetzen. Nun befassen sich teils Gerichte mit dem Thema. Erst kürzlich hat der Europäische Gerichtshof die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten aufgefordert, die Notfallzulassungen für Neonicotinoide einzustellen – eine für Bienen und Biodiversität besonders schädliche Gruppe von Ackergiften. In Hunderten von Fällen hatten die Regierungen in den vergangenen Jahren solche Ausnahmeregelungen durchgewinkt, wie eine aktuelle Analyse des Pestizid Aktions-Netzwerks (PAN) zeigt. Die Organisationen des EBI-Bündnisses dringen jetzt darauf, mindestens die „giftigsten 12 “ Pestizide schnellstens zu verbieten.

Doch die Organisationen im EBI-Bündnis machen sich keine Illusionen. Erwartet werden zähe Verhandlungen über die von der EU-Kommission vorgeschlagene Pestizidreduktion. Immerhin: Kurz nach der EBI-Anhörung stellte die EU-Kommission einen „Neuen Deal für Bestäuber“ vor. Außerdem wird die Kommission noch in diesem Jahr mit einer eigenen Mitteilung auf die Bürgerinitiative „Bienen und Bauern retten“ reagieren.

Für die Aurelia Stiftung bedeutet das: Wir bleiben wachsam und bringen uns weiter in den demokratischen Prozess ein. Denn die Erfolgsgeschichte der EBI zeigt auch, wie lohnenswert der Einsatz von zivilgesellschaftlichen Bündnissen ist. Wir brauchen jetzt jede Stimme, damit die neue Verordnung zur Verringerung des Pestizideinsatzes ein Erfolg wird. Das bedeutet auch, die Regierung in Deutschland nicht aus der Verantwortung zu entlassen.  Jetzt ist politische Tatkraft gefragt: hierzulande und in der gesamten EU.

Weitere Informationen:

Zu einem Video des Bündnisses über die EBI-Anhörung mit Highlights der Debatte (auf Englisch)

Zur kompletten Aufnahme der EBI-Anhörung im EU-Parlament vom 24.1.2023 (für die deutsche Übersetzung unten in der Videoliste auf das Noten-Symbol klicken und „DE-Deutsch“ auswählen)

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