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„Wir fangen gerade erst an zu verstehen…“

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Von Bernd Rodekohr

Die EU-Kommission wird ihren Gesetzesvorschlag zur Deregulierung neuer Gentechniken (NGT) nicht wie angekündigt am 7. Juni vorlegen. Der Termin war nicht mehr zu halten, nachdem der EU-Ausschuss für Regulierungskontrolle, das sogenannte Regulatory Scrutiny Board (RSB), den Vorschlag zurückgewiesen hatte. Die Auswirkungen auf das Vertrauen der Verbraucher:innen, den Biosektor, die Umwelt und die Gesundheit seien nicht ausreichend bewertet worden. Zudem sei versäumt worden, einen Überblick über die Kosten und den Nutzen zu geben. Als „Anwältin der Bienen“ fühlen wir uns durch das Urteil des EU-Kontrollausschusses darin bestärkt, die Risiken der geplanten Gentechnik-Deregulierung für das Ökosystem weiterhin kritisch unter die Lupe zu nehmen und das Recht der Verbraucher:innen auf Transparenz und Wahlfreiheit zu verteidigen.

Nicht gut gelaufen

Die Prüfung durch den Ausschuss sei „nicht gut gelaufen“, zitiert die Fachzeitschrift Agra Facts einen EU-Beamten. Die Kommission habe unter anderem „die Auswirkungen auf das Vertrauen der Verbraucher:innen, den Biosektor, die Umwelt und die Gesundheit nicht ausreichend geprüft“. In der aktuell publizierten Tagesordnung der nächsten Kommissionssitzung ist nun beabsichtigt, den Entwurf für das neue Gentechnik-Gesetz am 5. Juli 2023 vorzulegen. Der Tagesordnungsvorschlag kann jedoch jederzeit wieder verschoben werden.

Neben inhaltlichen Gründen liegt dies auch daran, dass Vize-Kommissionspräsident Frans Timmermans die Agrarindustrie-Lobby mit der Deregulierung der neuen Agrogentechnik zu Zugeständnissen bei der Pestizidreduktion bewegen will. Bislang jedoch ist Timmermans‘ Plan nicht aufgegangen. Im Landwirtschaftsausschuss des Europaparlaments gab es am 23. Mai 2023 keine Mehrheit für eine Pestizidreduktion. Und ohne Pestizidreduktion gebe es keine Deregulierung der neuen Gentechnik, so Timmermans.

Erhebliche methodische Schwächen, alarmierende Einseitigkeit

Bei Umweltverbänden und Forschenden ist es unstrittig, dass das Artensterben nur durch eine drastische Reduktion von Pestiziden zu stoppen sein wird. Diese dringend notwendige Pestizidreduktion jedoch mit dem Verzicht auf eine individuelle, ausnahmslose Risikoprüfung von gentechnisch veränderten Pflanzen zu erkaufen, erscheint mehr als fragwürdig.

Erst im Februar übergaben Umwelt- und Verbraucherschutz-Organisationen aus 17 EU-Mitgliedsstaaten der Europäischen Kommission in Brüssel eine Petition von über 420.000 EU-Bürger:innen, in der diese die Beibehaltung von Risikoprüfung und Kennzeichnung für Produkte aus neuer Gentechnik fordern.

Die Bewertung der EU Kommission, mit der diese die Gentechnik-Deregulierung begründet, ist zudem höchst umstritten bei Umwelt- und Wirtschaftsverbänden. Der europäische Verband der gentechnikfreien Lebensmittelwirtschaft ENGA schrieb an die Kommission, eine solche „Sammlung von Meinungen“ zu „wissenschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten“ könne „kaum als Folgenabschätzung bezeichnet werden und kann auch keine wissenschaftlichen Analysen und Modellierungen ersetzen“.

Auch das Bundesamt für Naturschutz (BfN) kommt zu dem Ergebnis, dass NGT ein erhebliches Risikopotenzial birgt und attestiert der Bewertung der EU Kommission „erhebliche methodische Schwächen“. Der Stand der Forschung werde „nicht systematisch“ analysiert, stattdessen würden „willkürliche“ Schlussfolgerungen gezogen. Unbeabsichtigte Auswirkungen und wesentliche Besonderheiten der NGT würden von der EU-Kommission überhaupt nicht thematisiert. So ließen sich Teile des Pflanzengenoms mittels NGT verändern, die mit anderen Methoden kaum zugänglich sind.

Dafür, Pflanzen aus neuer Gentechnik weiterhin ausnahmslos einer individuellen Risikoprüfung zu unterziehen, plädieren auch Forschende der Umweltbehörden aus Italien, Österreich, Polen und der Schweiz. Auch bei einer Sachverständigenanhörung zur NGT im Bundestag im November 2022 gab es keine Mehrheit für Gentechnik in der Landwirtschaft.

Bislang ist völlig unklar, wie die neuen gentechnisch veränderten Organismen (GVO) nachgewiesen oder rückverfolgt werden können. Beides ist für Landwirtschaft, Naturschutz und Verbraucher:innen jedoch essenziell, um NGT-Produkte kennzeichnen bzw. erkennen zu können. „Nur dann“, betont Silvia Bender, Staatssekretärin im Bundeslandwirtschaftsministerium, „haben Landwirtinnen und Landwirte sowie Verbraucherinnen und Verbraucher Wahlfreiheit; und können sich für oder gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel entscheiden“. Denn mit dem Kauf gentechnikfreier Produkte aus ökologischem Anbau geben Verbraucher:innen einer bienenfreundlichen Landwirtschaft Rückenwind. Die Agrarkonzerne greifen derweil tief in die Trickkiste, um ihre Monopolstellung auszubauen und mittels NGT das Patentverbot zu unterlaufen. Sie beanspruchen Genvarianten für sich, die auch auf natürliche Weise in Ackerpflanzen vorkommen und mit konventioneller Züchtung nicht patentiert werden dürfen.

Störungen in den Interaktionen mit Bestäubern und Bodenorganismen

Je mehr NGT-Pflanzen in die Umwelt gelangen, desto größer wird das Risiko, dass deren neue Eigenschaften die empfindlichen Stoffwechsel- und Signalwege im Ökosystem stören. Schon die Veränderung eines Schlüsselgens kann eine ganze Nahrungskette zerstören. Dies haben Forschende der Universität Zürich unlängst gezeigt, als sie nur ein einziges Gen der Pflanze Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) veränderten. Daraufhin brach ihr Laborökosystem aus Blattläusen und Wespen zusammen. „Wir fangen gerade erst an zu verstehen, welche Folgen genetische Veränderungen für das Zusammenspiel und die Koexistenz von Arten haben“, kommentierte der Studienleiter Dr. Matthew Barbour.

Auch die Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) warnt in einem Gutachten, dass die Interaktion zwischen NGT-Pflanzen mit neuen Eigenschaften zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen kann: „Werden beispielsweise Öle und Eiweißstoffe in Lebensmittelpflanzen verändert, kann das sowohl die Verträglichkeit der Lebensmittel beeinflussen als auch zu Störungen in den Interaktionen mit Bestäubern und Bodenorganismen führen.“

Die Politik wäre gut beraten, industrieunabhängigen und gentechnikkritischen Forschenden mehr Gehör zu schenken. Sie sind die Lobby für Biene und Umwelt. Agrarkonzerne verfolgen hingegen völlig andere Interessen.

Ansprechpartner

Bernd Rodekohr
Fachreferent "Biene und Gentechnik"
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