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Für Transparenz und Vorsorge statt „gegen Gentechnik“

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Von Bernd Rodekohr

Mögen Sie Insekten in Lebensmitteln? Stellen Sie sich vor, die EU würde Insekten in Lebensmitteln ohne Kennzeichnungspflicht erlauben und die Ablehnung der Verbraucher:innen als irrational und verkaufsschädigend abtun. Nach diesem Muster verfährt die Kommission zurzeit bei Pflanzen aus Neuer Gentechnik (NGT). Künftig sollen selbst herbizidtolerante Pflanzen ohne Kennzeichnung und ohne individuelle Risikoprüfung vermarktet werden – eine klare Missachtung der UN-Leitlinien zum Verbraucherschutz.

Seltene Einigkeit

Ausnahmsweise sind sich mal (fast) alle einig: Pflanzen aus „neuer“ Gentechnik müssen geprüft und gekennzeichnet werden. So lautet das Ergebnis einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der Verbraucherorganisation foodwatch e. V. Der Umfrage zufolge wollen 96 Prozent der Befragten, dass NGT-Pflanzen immer einer Risikoprüfung unterzogen werden, und 92 Prozent erwarten, dass NGT-Lebensmittel auch entsprechend gekennzeichnet sind.

Die Aurelia Stiftung hat Landwirtschaftsminister Cem Özdemir daher aufgefordert, sich in Brüssel nicht in eine Enthaltung zu flüchten. Denn wie Deutschland sich in der EU positioniert, hat großen Einfluss darauf, ob Gentechnik ohne Kennzeichnung und Risikoprüfung ein Freifahrtschein ausgestellt wird. Die Rückendeckung von Bundeskanzler Olaf Scholz sollte Özdemir haben: Scholz hatte kurz vor der Bundestagswahl versprochen, sich auf allen Ebenen für die Beibehaltung von Kennzeichnungspflicht und Risikoprüfung für Neue Gentechnik einzusetzen.

Entmündigung der Bürger:innen

Sollten sich EU-Kommission und Agrarindustrie tatsächlich gegen den Willen von über 90 Prozent der Bürger:innen durchsetzen, würde den Verbraucher:innen die Freiheit genommen, selbst zu entscheiden, ob sie Gentechnik auf dem Teller haben wollen. Eine solche Basta-Politik nach dem Motto „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!“ würde die Bürger:innen nicht nur entmündigen, sondern auch Demokratieverdrossenheit und Populismus nähren. Niemand hätte ohne NGT-Kennzeichnung mehr die Möglichkeit, durch seine Kaufentscheidung für eine gentechnikfreie Natur zu stimmen. Eine Koexistenz von deregulierter Gentechnik mit gentechnikfreier Landwirtschaft wird in der Praxis unmöglich sein.

Riskant für Bienen und Ökosysteme

Die Freisetzung einer großen Zahl ungeprüfter NGT-Pflanzen mit neuen Eigenschaft en, darunter auch herbizidtolerante Pflanzen, ohne Umweltfolgenabschätzung und Rückverfolgbarkeit wäre mit unkalkulierbaren Risiken für unsere Ökosysteme verbunden und ein Verstoß gegen das Vorsorgeprinzip der EU. Es wäre unverantwortlich, Wechselwirkungen, Kombinationskreuzungen und kumulative Prozesse von NGT-Pflanzen mit neuen Eigenschaft en nicht wissenschaftlich zu überprüfen. Zudem braucht es ein Umwelt-Monitoring, um unerwünschte Auswirkungen solcher Pflanzen für Bienen und andere Insekten im Auge zu behalten. Doch dafür ist der Deregulierungsvorschlag der EU-Kommission blind.

Rechtswidriges Risikopotenzial

Laut Bundesumweltministerium könnten sich die Effekte durch NGT-Pflanzen aufsummieren und so unvorhergesehene Veränderungen bewirken“. Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) kommt sogar zu der Einschätzung, dass Pflanzen aus Neuer Gentechnik ein ähnliches, wenn nicht sogar ein größeres Risikopotenzial aufweisen als Pflanzen der „alten“ Gentechnik. Auch Expert:innen anderer europäischer Umweltbehörden empfehlen, NGT-Pflanzen einer verpflichtenden Risikoprüfung zu unterziehen. Denn mit NGT lassen sich Veränderungen erzielen, die mit herkömmlicher Züchtung oder auch mit bisheriger Gentechnik nahezu unmöglich wären.

Ungeprüfte Pflanzen mit neuen Eigenschaften ohne Kennzeichnung freizusetzen, wäre eine Missachtung der UN-Leitlinien zum Verbraucherschutz.  Es wäre zudem eine Entscheidung, die über Generationen hinweg wirken würde. Dürfen wir dieses Risiko eingehen? Ein Rechtsgutachten der auf Umweltrecht spezialisierten Kanzlei GGSC im Auftrag der grünen Bundestagsfraktion sagt: Nein. Die EU habe sich im internationalen „Cartagena-Protokoll“ über biologische Sicherheit zu einzelfallbezogenen Risikoprüfungen verpflichtet.

Schluss mit den Nebelkerzen

Die Agrarindustrielobby liebt fundamentalistische „Für oder gegen Gentechnik“-Debatten, weil sie prima davon ablenken, worum es eigentlich geht: die drohende Abschaffung von NGT-Kennzeichnung und -Risikoprüfung zulasten von Verbraucher:innen und Umwelt. Sie lenken ab vom Ausverkauf der Natur durch CRISPR-Patente und von fehlenden Haftungsregelungen. Vor allem aber lenken solche Debatten und wolkigen Versprechungen davon ab, dass wir dringend mit dem grundlegenden Umbau der Agrarsysteme hin zu einer bienenfreundlichen, klimafesten Landwirtschaft beginnen müssen – auch ohne Gentechnik.

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